„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, spottete einst Helmut Schmidt. Der Satz passte perfekt in die Nachkriegszeit, als es um handfesten Wiederaufbau ging, Stabilität und pragmatische Lösungen. Heute, in einer Welt der Brüche und Unsicherheiten, Kriege und Klimakrise, Populismus und Polarisierung, wäre Schmidt vermutlich gescheitert. Denn heute braucht es mehr denn je: Visionen. Und zwar auch in der Kirche.
Pfingsten markiert den Beginn der Kirche: Eine Gruppe verängstigter Jüngerinnen und Jünger wird durch den Geist Gottes ermutigt, hinauszugehen und die Welt zu verändern. Diese Ur-Erzählung zeigt: Kirche war nie statisch. Sie entstand aus einer Vision – der Verheißung, dass Gottes Geist Menschen befähigt, Grenzen zu überschreiten. Doch heute, 2000 Jahre später, wirkt die evangelische Kirche getrieben und zersplittert. Sie verliert Mitglieder, Geld und gesellschaftlichen Einfluss – und reagiert mit zahlreichen Reformen, die nebeneinander herlaufen.
Es fehlt ein „Pfingstimpuls“ für das 21. Jahrhundert
Die Bilanz der kirchlichen Reformbemühungen ist durchwachsen: Landeskirchen modernisieren ihre Verwaltung, fusionieren Gemeinden, erneuern ihre Kirchenordnung, experimentieren mit Digitalisierung. Doch wie Steffen Bauer, Experte für Kirchenreformen, kritisiert: Jede Landeskirche läuft nur der eigenen Herde nach – ohne zu sehen, dass versprengte Schafe auch auf allen Nachbarweiden unterwegs sind. Tatsächlich gibt es heute 20 Landeskirchen mit 20 verschiedenen Zukunftsstrategien; ein Flickenteppich, der Ressourcen verschlingt und Kraft raubt.
Viele strengen sich an, eine Lösung präsentieren zu können. Der Dachverband der Landeskirchen, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) skizzierte bereits 2006 mit „Kirche der Freiheit“ ein Zukunftsbild. Rheinland, Bayern und andere entwickelten eigene Leitbilder wie „Kirche 2030“. Doch diese Entwürfe und weitere laufen nebeneinander her. Es fehlt eine gemeinsame, übergreifende Vorstellung – ein „Pfingstimpuls“ für das 21. Jahrhundert.
Die Bibel hat Gesellschaften umgekrempelt
Die Bibel ist voller Visionen, die Gesellschaften umkrempelten: Mose führte sein Volk mit der Vision einer gerechten Gemeinschaft aus der Sklaverei. Der Prophet Jesaja träumte von einem Friedensreich, in dem „Schwerter zu Pflugscharen“ werden. Die Apostel brachen nach Pfingsten auf, um die Heilsbotschaft über alle Grenzen zu tragen. Selbst Jesus begann sein Wirken mit der Vision vom „Reich Gottes“ – einer radikalen Alternative zur Herrschaft Roms.
Visionen sind kein Luxus, sondern Überlebensfrage. Nelson Mandela überwand die Apartheid, Martin Luther King kämpfte für Bürgerrechte, Greta Thunberg prägt die Klimadebatte, Eleanor Roosevelts Utopie einer gerechten, friedlichen Welt prägte die internationale Menschenrechtspolitik – sie alle hatten ein mächtiges Bild vor Augen. Sogar Donald Trump zeigt, welche Kraft Visionen haben können. Sein Kampfruf „Make America Great Again“ mobilisiert Millionen; auch, wenn man Haltung und Politik dahinter für verabscheuungswürdig halten muss.
Die evangelische Kirche steht an einem Scheideweg. Sie kann weiterhin Reformen verwalten – oder sie wagt den Sprung in eine gemeinsame Vision. Diese müsste Antworten geben auf drängende Fragen: Wie gewinnt Kirche Bedeutung in einer glaubensfernen Gesellschaft? Wie verkündet sie das Evangelium, ohne moralisch zu bevormunden? Wie nutzt sie ihre Diakonie und Bildungsarbeit, um Brücken zu bauen? Wie geht sie mit sexualisierter Gewalt um?
Visionen erlaubt: Der Geist darf wehen, wie er will
Ein solcher Entwurf wäre noch immer kein Stein der Weisen, der alles zu Gold verwandelt. Sondern ein offener Prozess – getragen von Laien, Hauptamtlichen und Außenstehenden. Er könnte Lehren ziehen aus erfolgreichen Beispielen: Die Nordkirche zeigt, wie Fusionen gelingen. Und zahlreiche Projekte, Initiativen und Aufbrüche vor Ort beweisen, dass neue Formen der Gemeinschaft möglich sind. Denn eine gemeinsame Vision bedeutet NICHT Gleichmacherei – im Gegenteil, sie kann und muss die Freiheit lassen, dass vor Ort der Geist wehen darf, wie er will.
Helmut Schmidt passte in seine Zeit. Angela Merkel bewahrte, was noch zu retten war. Doch heute braucht die Welt Politikerinnen und Politiker wie Mandela. Und die Kirche braucht Mutige und Weitsichtige wie Jesaja – Menschen, die eine gemeinsame Vision wagen.
Pfingsten erinnert daran: Kirche entstand nicht durch Verwaltung. Sondern durch Begeisterung. Sie überlebt nicht durch Reparatur. Sondern durch Aufbruch.