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Unterwegs in einer traumatisierten Region

Eine Delegation der westfälischen Kirche reist ins Heilige Land – ein lebhafter Bericht über Traumata, Hoffnung und die Frage: Ist friedliches Zusammenleben in Israel und Palästina noch möglich?

Blick auf das zerrissene Jerusalem: Am Jerusalem-Tag treffen Geschichte, politische Spannungen und religiöse Symbolik eindrücklich aufeinander
Blick auf das zerrissene Jerusalem: Am Jerusalem-Tag treffen Geschichte, politische Spannungen und religiöse Symbolik eindrücklich aufeinanderImago / Sopa Images

Ralf Lange-Sonntag, Nahostreferent der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), und Jens Nieper, Vorsitzender des Ökumene-Unterausschusses Naher und Mittlerer Osten, sind im Mai nach Israel und Palästina gereist. Ihr Ziel war es, den von Krieg und Terror betroffenen Menschen vor Ort die Solidarität der EKvW auszusprechen, ihre Sorgen und Hoffnungen wahrzunehmen und die Beziehungen zu Partnerorganisationen zu stärken. Ein Erfahrungsbericht.

Von Beginn unserer Solidaritätsreise an habe ich das Heilige Land als ein zerrissenes und traumatisiertes Land erlebt. Die Auswirkungen des Hamas-Terroranschlags vom 7. Oktober 2023 und des dadurch ausgelösten Gaza-Krieges sind an allen Orten sichtbar. Das beginnt schon bei der Anreise: Fast alle Fluggesellschaften haben den Flugverkehr nach Tel Aviv ausgesetzt. Entsprechend leer ist auch der Flughafen. Wo noch vor zwei Jahren eine Vielzahl von Pilgergruppen und Touristen Schlange bei der Grenzkontrolle stehen, sind wir diesmal nur wenige Ausländer.

Symbolfarbe Gelb fordert Geiselbefreiung

Beim Weg durch das Flughafengebäude passieren wir die Bilder der Geiseln, und selbst am Flughafentower prangt weit sichtbar die gelbe Schleife, Zeichen für die Forderung, die Geiseln zu befreien: „Bring them home!“ – „Bringt sie nach Hause!“ In den nächsten drei Tagen begegnet uns die Symbolfarbe Gelb immer wieder: Wehende gelbe Fahnen am Straßenrand, ein gelber leerer Stuhl in der Synagoge des liberal-jüdischen Leo-Baeck-Education-Centers in Haifa oder die Bilder der getöteten oder nach Gaza verschleppten Studierenden im Foyer des Academic Colleges of Tel Aviv-Yaffo.

Besonders eindrücklich erlebe ich das Treffen mit einer Überlebenden des Anschlags aus dem Kibbuz Re’im ein. Varda, eine etwa 80jährige Dame, ist sichtlich aufgewühlt, als sie erzählt, wie erst die Flüchtlinge vom nahegelegenen Nova-Musik-Festival im Kibbuz Re’im ankommen und kurze Zeit später die Terroristen der Hamas, die wahllos morden und eine Schneise der Zerstörung schlagen. Auf eigene Initiative gelingt es den Überlebenden des Kibbuz, zwei Hochhäuser inmitten von Tel Aviv zugesprochen zu bekommen. Dort können sie vorübergehend in Gemeinschaft leben und sich gegenseitig in ihrer Trauer beistehen.

Gedenken an getötete Studierende des Academic College of Tel Aviv-Yaffo und ein leerer gelber Stuhl als Aufforderung „Bring them home“
Gedenken an getötete Studierende des Academic College of Tel Aviv-Yaffo und ein leerer gelber Stuhl als Aufforderung „Bring them home“Ralf Lange-Sonntag

Erlebnis am Jerusalem-Tag

Ein anderes, ein aggressives und revanchistisches Israel erlebe ich am Jerusalem-Tag, einem Feiertag, der an die Eroberung Jerusalems im Jahr 1967 erinnert. Aus dem ganzen Land reisen Menschen an, zum Teil ganze Schulklassen. Der Demonstrationszug führt auch durch das muslimische Viertel der Jerusalem Altstadt – eine Provokation für die dortige palästinensische Bevölkerung. Es gibt Berichte von gewaltsamen Übergriffen gegen Araber und deren Geschäfte. Geschockt bin ich darüber, wie viele Menschen die Errichtung des dritten Tempels fordern. Das würde die Zerstörung des Felsendoms und der Al-Aksa-Moschee, des drittheiligsten Ortes des Islams, bedeuten und einen Weltkrieg entfesseln. Das wird von den Demonstranten entweder nicht reflektiert oder bewusst in Kauf genommen.

Zwischen diesen Extremen ist in Israel eine Art von Normalität erkennbar: Das tägliche Leben geht weiter, überall wird gebaut, am Strand von Nahariya sonnt man sich und zur Rush-Hour reihen sich die Autos in die vielen Staus in und um Tel Aviv ein.

Checkpoints erschweren den Weg zur Schule

Von einem „neuen Normal“ sprechen auch die Schülerinnen an der deutschen Auslandsschule Talitha Kumi im palästinensischen Beit Jala. Die zunehmenden Checkpoints auf dem Weg zur Schule erschweren die Planung des Schulwegs. Ihre Lehrerinnen berichten von zunehmender Angst, Aggressivität und Konzentrationsmängeln bei ihren Schülerinnen und Schülern. Jede und jeder kennt Freunde und Verwandte, die in Gaza gestorben, verwundet oder auf der Flucht sind. Schülerinnen, mit denen wir sprechen, sehen in ihrer Heimat keine Zukunft mehr. Sie hoffen darauf, nach dem Abitur in der westlichen Welt zu studieren und dauerhaft eine Anstellung zu finden.

Gruppenfoto mit Schulleiter Birger Reese, Lehrerinnen und Schülerinnen der Schule Talitha Kumi bei einem Austausch über Bildung und Alltag in Palästina
Gruppenfoto mit Schulleiter Birger Reese, Lehrerinnen und Schülerinnen der Schule Talitha Kumi bei einem Austausch über Bildung und Alltag in PalästinaRalf Lange-Sonntag

Dass immer mehr palästinensische Familien auswandern, vor allem christliche, ist für Ibrahim Azar, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Jordanien und dem Heiligen Land, eine große Herausforderung. Durch die kirchliche Bildungsarbeit und die neu gegründete Diakonieabteilung versucht die kleine Kirche gegenzusteuern. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, dem Einbruch des Tourismussektors und mangelnder Karrierechancen für die jungen Menschen im Westjordanland bleibt sie bei ihrer wichtigen Arbeit auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen.

Ohnehin wird der Spielraum der Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland immer geringer. Die Entfernung zwischen Ramallah und Bethlehem beträgt nur etwa 30 Kilometer Luftlinie. Wegen der Checkpoints dauert die Fahrt aber oft mehrere Stunden, wenn man überhaupt das Ziel erreicht. Der Ausbau der gegen das Völkerrecht verstoßenen Siedlungen im Westjordanland macht einen selbständigen Staat Palästina immer unwahrscheinlicher.

Menschenrechtsorganisationen machen auf Aggressionen der jüdischen Siedler aufmerksam

Menschenrechtsorganisationen berichten, dass radikale jüdische Siedler immer aggressiver agierten. Schafe von palästinensischen Hirten würden gestohlen, Olivenbäume ausgerissen oder illegale Außenposten in und außerhalb von palästinensischen Orten errichtet. Das Militär lasse die Siedler meist gewähren oder decke deren unrechtmäßige Taten sogar. In Gesprächen mit uns äußerten palästinensische Christinnen und Christen ihre Angst, dass nach Gaza auch die Westbank mit Vertreibung und Zerstörung rechnen müsse.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer machen für mich die vielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus, die sich für Begegnung und Versöhnung engagieren. „Wir tun das normalste der Welt: Wir unterstützen Menschen, die um Hilfe bitten“, betont beispielsweise die Geschäftsführerin von „Road to Recovery“. Die israelische NGO bringt kranke Menschen von der Grenze des Westjordanlandes (und früher auch von Gaza) für notwendige Operationen zu Kliniken in Israel und zurück. Die Geschäftsführerin berichtet aber auch von wachsender Feindschaft gegen ihre Arbeit.

Ist ein friedliches Zusammenleben möglich?

Dass ein Zusammenleben von arabischen und jüdischen Israelis möglich ist, zeigen zum Beispiel der palästinensische Christ John und der orthodoxe Jude Ruben vom Rossing Center für Education and Dialogue in Jerusalem. Viele Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch auch von Versuchen, ihren Handlungsspielraum immer weiter einzuengen. So versuche die rechts-gerichtete Regierung Israels, kritische Organisationen, mit einer Steuer von 80 Prozent zu belegen. Wenn nicht nötiger Druck aus dem Ausland erfolge, würde dieses Steuergesetz das Aus vieler Organisationen bedeuten, die sich für Verständigung und Frieden einsetzten.

Mir drängt die Erkenntnis auf, dass die Hoffnung für einen Frieden im Heilige Land immer mehr schwindet. Umso dankbarer wurde unser Besuch wahrgenommen und wertgeschätzt. Wichtig ist meines Erachtens, dass wir, Christinnen und Christen in Deutschland, uns weiterhin für die betroffenen Menschen im Heiligen Land einsetzen. Angesichts der fürchterlichen Zustände in Gaza muss von den Kirchen schon allein aus humanitären Gründen die eindeutige Botschaft ausgehen: „Man lässt keine Menschen verhungern. Punkt.“

Mehr zum Thema „Gaza-Krieg“: Die gemeinsame Stellungnahme von EKD und Diakonie-Katastrophenhilfe vom 26. Mai: https://www.ekd.de/humanitaere-katastrophe-beenden-90523.htm

https://www.evangelisch-in-westfalen.de/aktuelles/detailansicht/news/westfaelische-delegation-besucht-israel-und-palaestina/

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