Mehr Hilfe für die Bevölkerung im Gazastreifen – oder ein vollständiger Stopp der Lieferungen? Für beide Positionen gehen in Israel Menschen auf die Straßen.
Seit mit dem Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 der Gaza-Krieg begann, wird über ein Thema besonders gestritten: Wie soll die palästinensische Bevölkerung im Konfliktgebiet mit humanitärer Hilfe versorgt werden? Internationale Organisationen warnen seit langem vor einer Hungersnot und katastrophalen Folgen der israelischen Blockade.
Eine neue Organisation namens “Gaza Humanitarian Foundation” (GHF) soll nach US-amerikanisch-israelischem Willen Hilfe zu den notleidenden Palästinensern bringen. Und zwar, ohne dass die Güter in die Hände der Hamas gelangen. Doch nun häufen sich Berichte über Angriffe auf Verteilpunkte. Einer lautstarken Minderheit in Israel ist auch die neue Hilfsform ein Dorn im Auge. Seit 19. Mai lässt die Armee nach elfwöchiger Blockade wieder Hilfsgüter in das Kriegsgebiet. Dagegen protestieren rechtsgerichtete Aktivisten.
Israels Regionalstraße 232 verläuft entlang der Grenze zum Gazastreifen. Am südwestlichsten Punkt endet sie beim Warengrenzübergang Kerem Schalom. An diesem Mittwoch wird der Abschnitt zu einem bizarren Schauplatz: Rund 20 Mitglieder der Gruppe “Tzav 9” (Befehl 9) versammeln sich an der Avschalom-Kreuzung, neun Kilometer vor Kerem Schalom. Ihr Ziel: Lastwagen mit Hilfsgütern blockieren. Den Störern steht eine etwa gleich große Gruppe Aktivisten der israelisch-palästinensischen Koexistenzinitiative “Standing Together” gegenüber. Ihr Ziel: “Tzav 9” aufhalten. Dazwischen die Polizei, die versucht, für Ordnung zu sorgen.
“Hamas übernimmt die Hilfslieferungen, Hamas verkauft sie an die Palästinenser weiter, was bedeutet, dass Hamas indirekt Geld mit den Hilfslieferungen macht”, kritisiert “Tzav-9”-Sprecherin Rachel Touitou. Die neuen Verteilzentren der GHF seien eine Chance, dies zu verhindern. Tatsächlich lassen die Aktivisten Lastwagen durch, deren geladene Pakete das Logo der GHF tragen. Ihre Jagd gilt den Lkws mit Mehlsäcken des UN-Welternährungsprogramms WFP.
Für Dotan Vaisman, Mitglied von “Standing Together”, ist das Hamas-Argument nicht stichhaltig. Man hungere keine Menschen aus – aus Angst, dass die Terroristen einen Teil der Hilfsgüter stehlen könnten, sagt er. Vielmehr sei dies ein Argument für zusätzliche Lieferungen. “Denn wenn mehr Hilfe reinkommt, wird es schwieriger für die Hamas, die Güter zu stehlen und zu verkaufen.”
Für ihre Überzeugung sind Vaisman und seine Mitstreiter bereit, körperlich dazwischenzugehen, damit die Lastwagen wirklich durchkommen. “Eine Gruppe Rechtsextremer versucht, die Lkws zu stoppen. Wir sind hier, um sicherzustellen, dass die Polizei ihre Arbeit macht und die Extremisten nicht die Straße blockieren lässt. Wenn sie die Straße trotzdem blockieren, werden wir dazwischengehen”, so Vaisman. Dann sei die Polizei gezwungen, die Gruppen zu trennen – und der Weg für die Lkws sei frei.
Die Einstufung von “Tzav 9” als “extrem rechts” lehnt Touitou hingegen ab. Der Protest richte sich gegen die “unmoralische Weise der Hilfslieferungen”, ein Aushungern der Zivilbevölkerung sei nicht ihr Ziel. Man repräsentiere einen Querschnitt der israelischen Gesellschaft, in der Frage der humanitären Hilfe herrsche Konsens. Auch “Standing Together” sieht sich als Repräsentant einer Mehrheit und will für ein Ende des Krieges kämpfen.
Dann räumt die Polizei die Straße. Mehrere WFP-Lkws können ungehindert passieren. Aktivisten und Gegenaktivisten verlagern sich an die nächste Kreuzung, Holit, kaum mehr als einen Kilometer nordöstlich, bis “Tzav 9” auch dort die Jagd auf Hilfslieferungen aufgibt.
Rückzug an die Tankstelle von Magen, noch etwa 13 Kilometer weiter. Hier schließlich reicht der Vorsprung auf die Polizei. Unter großem Zuspruch von Passanten gelingt es den Störern, einen WFP-Transporter zum Stehen zu bringen. “Hilfe an die Hamas ist nicht humanitär”, skandiert die Gruppe von “Tzav 9”, während Mitglieder von “Standing Together” sich mit ihren lila Westen zwischen den Laster und die Gegner drängen. “Die radikale Linke blockiert Hilfslieferungen nach Gaza”, jubiliert ein “Tzav-9”-Anhänger.
Am Ende greift die Polizei abermals durch. Der Lkw kann seine Fahrt Richtung Gaza fortsetzen. Rachel Touitou ist zufrieden mit der Protestaktion. Es sei klar, dass sie vor Ort keine Veränderung bewirken könnten. Aber es sei gelungen, einen Lastwagen für eine gewisse Zeit zu blockieren. Die politische Botschaft sei unmissverständlich: “Lasst keine Hilfe in den Gazastreifen, die in die Hände der Hamas geraten könnte.”